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Arbeitslos nach Werkschließung

 Erfolgsbeispiel für berufliche Neuorientierung nach langjähriger Betriebszugehörigkeit

Interview mit Markus W., 51, Einkauf

Was ist passiert?

Unser Werk, in dem alte Dieselmotoren und Motorenkomponenten professionell wiederaufbereitet wurden, schloß seine Tore. Der gesamten 170-köpfigen Belegschaft wurde angeboten, mit an einen anderen Standort zu wechseln. Nur etwa 10 Prozent haben davon Gebrauch gemacht. Ich habe fast 22 Jahre meines Berufslebens in dem Unternehmen verbracht. Die Trennung verlief strukturiert. Ein Sozialplan wurde mit dem Betriebsrat verhandelt. Die Betroffenen unterschrieben einen Aufhebungsvertrag, erhielten eine Abfindung und kamen in eine Transfergesellschaft.


Deine alte Firma ist umgezogen und du bist geblieben. Warum?

Der angebotene Job in der anderen Niederlassung sagte mir nicht zu. Ich hätte dort andere Aufgaben bekommen. Außerdem erschien mir wöchentliches Pendeln nicht erstrebenswert. Für mich ist eine Work-Life-Balance wichtiger als ein guter Verdienst. Ich habe den Jobwegfall als Chance begriffen, mich beruflich neu zu orientieren.


Wie hat das Umfeld auf deine Entscheidung reagiert?

Manche haben das gar nicht verstanden, da ich als Single ja locker hätte pendeln können und der Job das ja wert gewesen wäre. Andere zeigten mehr Mitgefühl für meine Situation.


Hast du zwischendurch bereut, dass du nicht mitgegangen bist?

Zwischendurch habe ich gezweifelt, manchmal bereut, aber dann war ich durch Punkt für Punkt Abwägung der Vor- und Nachteile immer mehr davon überzeugt gewesen, das Richtige getan zu haben. Außerdem wohne ich im Urlaubsgebiet. Wer will da schon freiwillig weg?


Wie hast du dich damals gefühlt, als die Schließung des Standorts realisiert wurde?

Meine Stimmung war gedrückt. Am Anfang hatte ich Zukunftsängste und Schlafstörungen– wie wird es wohl weitergehen? Dazu kamen viele kleinere Enttäuschungen, die sich letztendlich aufstauten und sogar in Wut umschlugen. Ich war enttäuscht, weil…

• der profitable Standort, der größte Arbeitgeber im Dorf, einfach geschlossen und der gewinnbringende Geschäftsbereich verlagert wurde.

• eigentlich im Nachbarort ein Neubau geplant war, der dann in eine Standortschließung umgewandelt wurde,

• ein Werk mit einer 70-jährigen Tradition geschlossen wurde, welches früher fast das ganze Dorf ernährt hat,

• die Mitarbeiter nur als Zahlen gesehen wurden, deren Know How auf andere Mitarbeiter übertragen wurde,

• die Mitarbeiter mit einer Miniabfindung abgefunden werden sollten.

Ergebnis von Betriebsratsverhandlungen waren dann die Bildung einer Transfergesellschaft und die Zahlung einer akzeptablen Abfindung. Ich konnte die Wut zum Glück schnell loslassen, da ich die Entscheidung des Arbeitgebers, den Standort aufzugeben, aus unternehmerischer Sicht auch irgendwo nachvollziehen konnte. Mit zeitlichem Abstand sah ich das Ganze positiver. Es kam bei mir eine Aufbruchstimmung auf, als ich begann, das Jobende als Chance zu begreifen.


Wie kam es dazu?

Selbsterkenntnis ist das Zauberwort. Hört sich jetzt banal an, aber ich musste mir erstmal klar werden, was die berufliche Veränderung überhaupt für mich bedeutet, wie ich sie gewichten und damit umgehen sollte. Ich habe mich für den schwierigeren Weg entschieden, nicht einfach nur einen neuen Job zu finden, sondern einen, der mir etwas bedeutet, mit dem ich sozusagen nicht nur leben kann, sondern der zu meinem Leben gehört. Ich habe überlegt, wie ich das schaffe und was ich dafür brauche. Dabei kam ich sehr schnell auf das Schlagwort Bildung. Ich meine damit nicht nur Weiterbildung im beruflichen Sinne, sondern auch die Bildung der eigenen Persönlichkeit. Es ging mir darum, mein Selbstbewusstsein zu stärken und mich aus meiner Opferhaltung zu befreien.


Was meinst du mit Opferhaltung?

Ich fühlte mich zunächst als Opfer, weil ich ja zu einer Entscheidung gezwungen wurde. Diese kam nicht aus eigener Intention. Ich wurde vor die Wahl gestellt: Entweder Pendeln/Umziehen oder Kündigung.


Ihr seid in eine Transfergesellschaft gekommen. Wie waren die Konditionen?

• Aufgrund meiner Altersklasse (50) und langen Betriebszugehörigkeit erhielt ich 80 Prozent des vorherigen Nettolohnes für 12 Monate. Jüngere und Ältere hatten schlechtere Konditionen, da sie entweder nicht so lange im Betrieb tätig waren oder kurz vor der Verrentung standen. Dafür war aber für die Älteren Altersteilzeit möglich. 

• Diejenigen, die nach den 12 Monaten keinen neuen Job antraten, hatten zudem noch Anspruch auf Arbeitslosengeld, d.h. 60 bis 65 Prozent des Nettolohnes.


Du hattest durch die Transfergesellschaft praktisch 1 Jahr Zeit, dich beruflich neu zu orientieren. Wie war das?

Für mich fühlte sich die ganze Zeit fast so an, als hätte ich ein bedingungsloses Grundeinkommen. Alle vier Wochen hatte ich ein Beratungsgespräch in der Transfergesellschaft, in dem aktuelle Aktivitäten besprochen wurden. Das waren zwar Pflichttermine, jedoch herrschte keine Zwangsstimmung. Ich hatte nach der ersten Eingewöhnungsphase das Gefühl von persönlicher Entscheidungsfreiheit, nach dem Motto „Hey, ich kann ja mit meinem Leben anfangen, was ich will und nicht was Andere (die Gesellschaft) von mir verlangen. Ich kann meinen beruflichen Weg selber gestalten ohne große finanzielle Risiken, ich brauche doch nicht den erstbesten Job annehmen.“ Das Gefühl, dass die wichtigsten Grundbedürfnisse abgesichert sind, führte bei mir dazu, mich mehr auf meine Selbstverwirklichung zu konzentrieren und zwangloser zu handeln. Ich kam sehr schnell auf den Gedanken ein Vollzeit-Seminar zu belegen. Der Weiterbildungsplan zum Industriefachwirt wurde voll unterstützt. Während der Transfergesellschaft war ich auch arbeitsuchend gemeldet und bekam Stellenvorschläge, u.a. von der Agentur für Arbeit. Auf Stellenvorschläge für Leiharbeitsfirmen reagierte ich gar nicht oder ich habe diese mit Hinweis auf das Verdienstniveau abgelehnt.


Wie hast du die Zeit zwischen altem und neuem Job genutzt?

• Weiterbildung zum Industriefachwirt IHK

• Durcharbeiten diverser E-Learning Angebote, die von der Transfergesellschaft angeboten wurden

• Belegen eines Onlineseminars zum Thema „Grundlagen digitales Marketing“ von GOOGLE. Zwischenzeitlich hatte ich angedacht, mich mit einem Onlineshop selbständig zu machen,

• Networking im Bekanntenkreis; dabei versuchte ich auf für mich passende Ideen zu kommen

• Beschäftigung mit Motivationsthemen und Selbsthilfe durch Onlinevideos, Bücher etc.

• Geniessen der freien Zeit mit schönen Dingen – auf dem Fahrrad, im Ruderboot, Natur, am Häuschen gewerkelt!


Wer hat in der Zeit des beruflichen Umbruchs geholfen?

Mein Bekanntenkreis (u.a. ein Ex-Kollege, der mittlerweile zum Freund geworden ist und mich einnordet, wenn ich mal schief liege), mein Wille das Beste aus der Situation zu machen, Selbsthilfebücher und Videos.


In dem Monat, als du deinen letzten Arbeitstag hattest, wurdest du 50 Jahre alt. Wie war das?

Mit dem Austritt aus der Firma, der fast exakt zu meinem 50. Geburtstag stattfand, begann für mich gefühlt die zweite Lebenshälfte. Es kam einem kompletten Neuanfang gleich. Durch die Weiterbildung habe ich das Gefühl erneut eine „Lehre“ absolviert zu haben und damit nochmal neu durchzustarten.


Macht es einen Unterschied, ob du mit 25 oder 50 den Job verlierst?

Mit 25 hatte ich schon einmal einen Jobwechsel. Ich habe damals gekündigt ohne mir groß Gedanken über die finanziellen und sonstigen Folgen zu machen. Ich hatte es einfach nicht mehr im alten Job ausgehalten, war damals viel schmerzfreier, was Zukunftsängste anging. Ich hatte ja mein Leben noch vor mir – der jugendliche Leichtsinn half mir, unbewusst die richtige Entscheidung zu treffen! Nach 4 Wochen hatte ich schon wieder einen neuen, sehr schönen Job. Mit 50 habe ich da schon länger überlegt, was der nächste richtige Schritt ist!


Wie erging es dir auf der Suche nach dem neuen Job?

Insgesamt habe ich circa 50 Bewerbungen abgeschickt. Alle Bewerbungen waren auf Stellenanzeigen, die ich mir selber im Internet gesucht hatte. Ich bewarb mich nur auf Jobs, die ich wirklich als interessant und zukunftsträchtig ansah. Ich wurde zu fünf Vorstellungsgesprächen eingeladen. Zwei davon verliefen sehr enttäuschend. Die Gesprächspartner waren eher auf der Linie „Du suchst Arbeit“ und nicht “Wir suchen Dich“. Sie waren schlecht auf das Vorstellungsgespräch vorbereitet. Sie hatten die Bewerbung eines anderen Bewerbers vorliegen, mein Name wurde falsch genannt, der Lebenslauf nicht richtig gelesen. Diese Negativbeispiele waren jedoch wertvolle Erfahrungswerte für mich. Ich erkannte, dass ich mir mehr wert bin und die richtige Anstellung noch kommen würde.


Was rätst du heute Anderen, die in eine solche Situation kommen?

• Zuerst am Mindset arbeiten und der eigenen Persönlichkeit bewusst werden,

• Wünsche und Bedürfnisse ausarbeiten,

• Überlegen, was einem wichtig ist. Erst, wenn man weiss, was man will und was man nicht will, tätigt man die richtigen Schritte….

• Nichts von vornherein für unmöglich halten. Auch Traumjobs können sich auftun, wo man sie gar nicht vermutet.

• Hilfestellung von Arbeitsagentur annehmen, dabei als Kunde auftreten und aus der Opferhaltung raus kommen! Einfordern (z.B. Weiterbildungen etc.). Immer gut vorbereitet zu den Terminen fahren.

• Lernen, lernen, lernen…. Onlinevideos, Bücher usw. – Bildung ist die beste Investition!


Was hast du aus dem Jobverlust gelernt?

Das Beständigkeit allein nicht Sicherheit gibt. Man fühlt sich lediglich sicherer, aber nur der ständige Wandel kann Sicherheit bieten.


Was würdest du heute anders machen, wenn du in die gleiche Situation kommen würdest?

Von Anfang an die Veränderung annehmen und an der positiven Transformation arbeiten, ohne zu zögern. Ich habe ja bereits 2 Jahre vorher erfahren, dass der Standort geschlossen wird. Ich hätte von Anfang an mehr für meine Zukunft tun sollen, hatte es einfach auf mich zukommen lassen.


Wie haben sich deine Gedankenwelt und deine Emotionen seit dem Jobende verändert?

Ich bin offener für Neues, habe eine positive Grundhaltung zum eigenen Können entwickelt, bin selbstbewusster als vorher.


Du hast jetzt eine Anstellung im öffentlichen Dienst gefunden. Wie kam es dazu?

Ich sah die Stellenanzeige im Internet, bewarb mich per Mail. Mein Gegenüber im Vorstellungsgespräch war freundlich, gegenseitige Sympathie war sofort da. Ich hatte das Gefühl, wertgeschätzt zu werden, also nicht als Bittsteller aufzutreten, sondern dass ich derjenige bin, der „gebraucht“ wird. Nicht ich musste erklären, warum ich der Richtige für den Job bin, sondern der Arbeitgeber erklärte, dass ich mit meinem Werdegang der Idealbewerber für diese Stelle bin. Der Verdienst entspricht zwar nicht mehr dem, was ich früher hatte, aber ist über dem Durchschnitt was man als normaler Angestellter in meiner Region verdienen kann.


Du sagst, der Job passt jetzt mehr zu deiner aktuellen Lebensphase. Erzähl mal.

Mir kommt die neue Stelle wegen der modernen Arbeitszeitregelung sehr entgegen. Dies ist mir wichtiger als der Verdienst, der aber auch völlig ok ist. Da ich mittlerweile 52 werde, steht auch die vertragliche Sicherheit ganz oben auf der Liste der Prioritäten. Ich wollte einen Job mit unbefristeter Festanstellung, weil ich mit jedem Lebensjahr für einige Arbeitgeber uninteressanter werde. Wenn mir der Arbeitgeber finanzielle Sicherheit und eine gute Work-Life-Balance bietet, dann möchte ich diese Anstellung auch langfristig behalten. Gleichzeit achte ich darauf, mich auch zukünftig weiter zu bilden. Diese Stelle bekomme ich jetzt nur wegen meiner Berufserfahrung und meiner erfolgreich absolvierten Weiterbildung. Mit jungen Jahren hätte ich als gelernter Kfz-Mechaniker diesen kaufmännischen Job nie bekommen. Ich habe das Gefühl jetzt dort angekommen zu sein, wo ich schon immer hin wollte. Zumindest bin ich auf dem richtigen Weg. Abbiegen werde ich zukünftig immer noch, aber nur aus eigener Entscheidung – nicht fremdbestimmt.

 

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