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190 Bewerbungen – nur Jobabsagen

Arbeitsuchender gibt nicht auf und wird am Ende doch noch belohnt


Interview mit Thorsten B., 53 Jahre


Was ist passiert?

Ich arbeitete als Account Manager für ein Unternehmen, das mobile und modulare Messesysteme produziert. Vor einigen Jahren waren dort noch 14 Außendienstler deutschlandweit beschäftigt. Der Vertrieb wurde in der Folgezeit sukzessive reduziert. Als es mich traf, waren es noch vier Mitarbeiter in dem Bereich. Zu den Entlassungen kam es aus wirtschaftlichen Gründen. Wir bewegten uns in einem hartumkämpften Markt, haben immer nur reagiert statt agiert. Über Jahre wurden Umsatzziele nicht erreicht und Verluste eingefahren. Schließlich wurden die Personalkosten im Zuge einer Umstrukturierung und Neuausrichtung gesenkt. Für den deutschen Markt waren nur noch 2-3 Vertriebler vorgesehen.


Wie war der Ablauf der Kündigung? Wie verlief das Trennungsgespräch?

Der Vertriebsleiter hat mir die Kündigung in einem Gespräch schriftlich überbracht. Der Prokurist hat es noch nicht einmal für nötig gehalten mich anzurufen. Mit der Geschäftsführung gab es kein einziges Gespräch.


Wie hast du reagiert?

Ich nahm es wie ein Urteil hin. Es fühlte sich wie eine Niederlage an.


Wie ging es dir nach dem Austritt aus der Firma?

Ich war gefasst und gleichzeitig wütend, hilflos, niedergeschlagen und leer. Ich hatte Angst vor der Zukunft. Mit der Zeit kam dann mehr und mehr meine Kämpfernatur durch. Ich schaute nach vorne und war etwas optimistischer.


Hast du Kündigungsschutzklage eingereicht?

Ja. Die Situation der Kündigung hat mich belastet. Ich bin nachts wachgeworden, erinnerte mich an einen früheren Wegbegleiter. Dieser war Anwalt für Arbeitsrecht. Am nächsten Tag rief ich ihn direkt an und vereinbarte einen Termin. Einen Tag später führte ich bereits das Gespräch und fasste dann den Entschluss, Kündigungsschutzklage einzureichen.


Hattest du eine Rechtsschutzversicherung?

Nein.


Erzähl mal, wie bist du bei der Kündigungsschutzklage vorgegangen?

Ich habe das meinem Anwalt übergeben. Es gab einen außergerichtlichen Vergleich. Eine Abfindung wurde gezahlt. Von der Kündigung bis zum Arbeitsgericht vergingen 2 Monate.


Wer oder was hat dir in der Situation geholfen?

Niemand, ich war allein.


Wer in deinem Umfeld war von deinem Jobende betroffen?

Jetzt wird es persönlich. Einige Monate vor meiner Kündigung wurde ich von meiner Frau verlassen. Unser Haus wurde verkauft. Ich informierte meine Freunde persönlich über meine Situation, bin extrem offen damit umgegangen. Eines ist mir wichtig klar zustellen: Der private Verlust hatte keine Auswirkung auf meine Leistung im Job. Deshalb wurde ich nicht entlassen. Manchmal kommt eben alles zusammen. Ein Unglück kommt selten allein.


Wow, Veränderung auf allen Ebenen. Hat dir das nicht den Boden unter den Füßen weggezogen? Wie gingst du damit um? Was waren deine Anker?

Ja, Veränderung auf allen Ebenen! Ehrlich gesagt, es war die Hölle. Ich erlebte in dieser Zeit viele traurige Tage. Eines habe ich von ganz früh erfahren dürfen und das hat mich in dieser für mich sehr schweren Zeit immer begleitet: Mit sechs Jahren habe ich mit Sport angefangen, was dann schrittweise zum Leistungssport wurde. Dadurch habe ich schon im frühen Alter gelernt, mit Niederlagen umzugehen. Das hat mich sehr geprägt und gestärkt. Als Leistungssportler wusste ich, dass auch wieder Siege kommen. Diese Einstellung konnte ich auch auf das Berufliche umsetzen. Meine Anker, tja, da schreiben die meisten Familie. Den Hauptteil hatte ich durch meine Trennung verloren. Freunde, Netzwerke und berufliche Wegbegleiter waren für mich zeitweise da, denn der Alltag bestimmte ja auch ihre Zeit. Ich habe deshalb viel allein unternommen.


Hast du dich persönlich durch diese Erfahrung verändert? Wenn ja, wie?

Ja, es hat mich verändert. Ich wusste, dass mir niemand wirklich helfen konnte. Ich nahm alles selbst in die Hand.


Was würdest du heute anderen raten, die in eine solche Situation kommen?

Es gibt nicht vorhersehbare Situationen im Leben. Der Charakter der jeweiligen Person und die eigene Haltung zum Erlebten spielen bei der Bewältigung des Verlusts eine große Rolle. Wichtig ist, sich nicht aufzugeben und sich erreichbare Ziele zu setzen. Zudem sind eine gehörige Portion an Offenheit, Optimismus und Zielstrebigkeit wertvoll und hilfreich.


Auf welche Stellen hast du dich beworben?

Mein Schwerpunkt lag auf dem vertrieblichen Innen- und Außendienst. Die Suche war regional bis maximal 50 km von meinem Wohnort.


Wie bist du bei der Stellensuche vorgegangen?

Mein Ziel war es, schnellstmöglich eine neue berufliche Herausforderung anzunehmen. Jeden Morgen entwickelte ich einen festen Zeitplan für mich. Ich sah es wie meine Arbeit an: Stellen suchen, Firmen durchleuchten, mich selber hinterfragen, ob Firma und Stelle zu mir passen, Bewerbungen schreiben. Ab Mittag habe ich dann Freizeitaktivitäten als Ausgleich genutzt. Ich habe viel Sport getrieben, unternahm lange Fahrradtouren bis 100 km am Tag oder ging zum Schwimmen.


Wie erging es dir auf der Suche nach dem neuen Job?

Ich habe circa 190 Bewerbungen in einem Zeitraum von 9 Monaten geschrieben. Jobangebote habe ich über die bekannten Job-Plattformen gefunden. Das Jobcenter sendete mir wahllos Stellenangebote zu. Meistens habe ich zeitnah eine Eingangsbestätigung erhalten, zu 70 % eine automatische Rückantwort. Erhalten habe ich acht Einladungen. Davon waren drei von mir zum Anfang als Test. Bei diesen Gesprächen wusste ich bereits im Vorfeld, dass es aufgrund meiner Gehaltsvorstellung und der Stellenbeschreibung nichts werden konnte. Der Test war jedoch wichtig für mich, um herauszufiltern wie unterschiedlich sich Personaler und zukünftige Vorgesetzte verhalten. Ich wollte wissen, welche Fragen im Vorstellungsgespräch gestellt werden können und wie mein Gegenüber auf meinen Gehaltswunsch reagierte. Es gab Wochen, da kamen drei Absagen hintereinander. Das sind keine schönen Tage. Hier musste ich sehr diszipliniert sein und positiv denken. Ich wollte arbeiten. Das war meine Motivation, um aus den Enttäuschungen und Absagen gestärkt herauszugehen.


Mal ehrlich, 190 Bewerbungen: Verliert man da nicht den Mut irgendwann? Kratzt das nicht am Ego? 

Ja und nein. Als in einer Woche drei Absagen nacheinander kamen, hat es mich schon umgehauen. Irgendwie konnte ich mich jedoch doch immer wieder motivieren und mich weiter bewerben. Ich hatte große Angst davor, in der dunklen Jahreszeit keinen Job zu haben und dann in ein Loch zu fallen. Es war mein persönlicher Wunsch und Ziel, nach dem Sommer wieder eine Anstellung zu haben.


Haben es Menschen 50plus schwerer einen Job zu finden?

Ja, das ist so. Durch meine langjährige Tätigkeit im Vertrieb habe ich regelmäßig Gespräche mit Fach- und Führungskräften im Personalbereich und im Marketing geführt. Ich stellte fest, dass oft Menschen im Alter von 28 bis 36 Jahren als Personaler tätig sind. Ihr Blick ist ein ganz anderer. Meine Erfahrung ist, dass bei 10 Bewerbungen auf dieselbe Stelle eher drei junge Bewerber zum Vorstellungsgespräch eingeladen werden als der mit 50 plus. Ich bin fest davon überzeugt, dass bei einem persönlichen Vorstellungsgespräch das eigene Wissen, die vorhandene Empathie, Erfahrungswerte sowie die Persönlichkeit besser zum Tragen kommen als die ganze schriftliche Bewerbung.


Welche Werte sind dir in der Berufswelt wirklich wichtig? Was geht gar nicht?

Wichtig sind mir Wertschätzung, Loyalität, Teamwork und Work-Life-Balance. Was ich gar nicht mag sind Egoismus, Geldgier sowie soziale Inkompetenz.


Du hast inzwischen eine neue berufliche Aufgabe. Wie hast du den Job gefunden?

Den Job bekam ich über eine Freundin. Ihr Geschäftsführer fragte, ob sie jemanden kennen würde, der sich zutraut im Vertrieb zu arbeiten. Ich arbeite nun bei einem Reiseveranstalter im Vertrieb und mache Menschen glücklich, die speziell im südlichen und östlichen Afrika Urlaub machen möchten. Ich habe dort selber schon mehrmals Ferien verbracht.


Du hast in letzter Zeit Verlusterfahrungen im Beruf und im Privaten gemacht. Was sind deine Erkenntnisse daraus?

Aufgeben kam für mich nie in Frage. Allerdings kann ich gut verstehen, dass Menschen in solch einer Situation in ein großes Loch fallen und abgleiten. Ich kann nachvollziehen, dass Personen, die mitten im Leben stehen und von einen Tag auf den anderen alles verlieren, auch auf andere Gedanken kommen und sich etwas antun (Alkohol, Drogen, Suizid). 


Wenn du an die nächsten 15 Arbeitsjahre denkst, dann…

…..freue ich mich auf viele spannende Projekte und neue Entwicklungen, egal wo die Reise hingeht.


Ende gut alles gut?

Thorsten B. hat seine Krisensituation gemeistert. Manch einer bleibt in solch einer schwierigen Lebensphase auf der Strecke und braucht lange Zeit, um den erlebten Verlust zu verdauen. Sein Fall hat mich besonders bewegt, zumal ihm seine komplette Existenz von außen entrissen wurde. Nach einer langen Durststrecke hat er zum Glück wieder eine neue berufliche Aufgabe gefunden. In wie weit er die Trennung von seiner Ehefrau inzwischen verdaut hat, wissen wir nicht. Hast du schon solche Krisenzeiten erlebt? Wie bist du damit umgegangen? Was hat dir geholfen, da wieder herauszukommen?

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