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Pharmabetrieb tauscht Arbeitskräfte aus

BIETE: Alte, Teure, Schwache. SUCHE: Junge, Billige, Starke


Interview mit Claudia L., 60, Pharmareferentin


Was ist passiert?

2018 wurde der Außendienst umstrukturiert. Im Zuge eines Freiwilligenprogramms erhielten alte, kranke und teure Arbeitnehmer sowie Minderleister einen Aufhebungsvertrag angeboten. Sollten wir diese nicht akzeptieren, käme es zu einer betriebsbedingten Kündigung, hieß es. Letztendlich habe ich die Aufhebungsvereinbarung unterschrieben. Insgesamt wurden 50 Mitarbeiter aussortiert. Drei Monate später bekamen die im Unternehmen Verbliebenen 1500€ Kopfgeld, wenn sie neue Mitarbeiter erfolgreich anwarben. Ziel der ganzen Aktion war die Reduzierung der Personalkosten. Die Neueingestellten bekommen 50-60% Gehalt weniger.


Warst du lange im Unternehmen?

Ich arbeitete 25 Jahre in dem Pharmaunternehmen. Es war das erste Mal, dass ich nach so vielen Berufsjahren in die Arbeitslosigkeit geriet. Diese Arbeit erfüllte mich sehr, war mein Leben. Von einem Tag auf den anderen bekam ich den Boden unter den Füßen weggezogen. Wie war dein Chef? Wie war das Betriebsklima? Mein Chef war eine Plaudertasche, aber ansonsten ganz in Ordnung. In der Firma herrschte eine hierarchische Machtstruktur. Es wurde nach Gutsherrenart geführt. Die Stimmung verschlechterte sich mit der Zeit immer mehr.


Wie war der Ablauf der Kündigung? Wie verlief das Trennungsgespräch?

Die Ankündigung des Freiwilligenprogramms geschah in einer Videoschalte. Die geplanten Maßnahmen erfolgten einen Tag später. Danach erhielten die vom Stellenabbau betroffenen Personen eine elektronische Nachricht. Die Durchführung des Trennungsgespräches fand per Telefon statt. Teilnehmer waren der Betriebsrat, HR, mein Chef-Chef und ich. Zum Glück lief es wertschätzend ab. Ich reagierte gelassen, witzig und beherrscht.


Was war die stärkste Emotion?

Meine stärkste Emotion war Trauer. Ich habe meine Arbeit von ganzem Herzen geliebt und bin ihr mit Leidenschaft nachgegangen. Es hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen, obwohl ich bereits eine Vorahnung hatte. Gekränkt hat mich, dass mein ehemaliger Chef sich nicht von mir persönlich verabschiedet hat. Er sagte drei Terminvorschläge zum Essen ab. Bis heute hat er sich nie mehr gemeldet. Immerhin war ich sein Zugpferd mit den besten Umsätzen. Menschlich gesehen finde ich sein Verhalten schäbig.


Wie war dein letzter Arbeitstag?

Mein letzter Arbeitstag war sehr passend ein Palliativkongress. Beim Standabbau bin ich weinend zusammengebrochen. Zum Glück war ich nicht alleine in dem Moment. Da waren so viele Kolleginnen, die mir unterstützend beigestanden haben. Danach bin ich nach Hause gefahren und habe Tabula Rasa gemacht. Mein erster Gang führte zum Müllcontainer. Befreiung heißt auch Räumen! Nach zwei Tagen war ich firmenfrei. Ich habe allerdings geheult wie ein Schlosshund, als ich meine Arbeitstasche in den Keller verbannt habe.


Wer oder was hat dir in der Situation geholfen?

Mir hat geholfen, ein resilienter Charakter zu sein. Wenn sich etwas nicht ändern lässt, verschwende ich keine Energie darauf, mich darüber zu beschweren. Guten Rückhalt habe ich bis heute auch durch meine Freunde. Immer, wenn ich auf dem absoluten Tiefpunkt war, hat mich einer von ihnen gerettet! Einmal saß ich mit dem Aufhebungsvertrag da, in Tränen aufgelöst. Da hat mein ältester und bester Freund angerufen. Als hätte er es geahnt. Zum Glück habe ich Menschen an meiner Seite, die mich unterstützen. Ich bin nicht alleine. 





Wie gingst du mit der Situation um? Was würdest du heute anders machen?

Nach meiner Freistellung hat mir die Arbeitsagentur ein dreimonatiges Akademiker-Coaching angeboten. Das umfasste einen Tag Gruppencoaching in der Woche sowie eine Stunde Einzelcoaching. Beruflich hat mir das nicht geholfen, aber den Übergang auf dem Weg in eine neue Struktur des Lebens gut begleitet. Wohltuend war der Austausch mit anderen, jüngeren Betroffenen und noch nebenbei bemerkt: ich hatte im Vorfeld so Bedenken vor der Agentur. Die waren vollkommen unangebracht. Toller Service, guter Ton.

Ich habe gleich mal hektisch einen 450,– Euro-Job angenommen. Das würde ich heute nicht mehr machen, sondern mir mehr Zeit lassen. Ansonsten durchlebte ich eine Welle der Gefühle von Trauer, Wut und Angst. Ich fühlte teilweise auch eine Demütigung und hatte Alpträume. In dieser Zeit ist auch meine Mutter gestorben, was mich zusätzlich mitgenommen und belastet hat.


Hat sich dein Jobende angebahnt?

Ja, das Ende hatte sich abgezeichnet. Einige Monate vor dem Stellenabbau gründete das Unternehmen einen Leasingersatzaußendienst. Auf Nachfrage wurde immer abgestritten, dass es für uns irgendwelche Konsequenzen hätte. In der Phase wurde gelogen, dass sich die Balken bogen.


Was hast du im Aufhebungsvertrag ausgehandelt?

Ich wurde für 10 Monate bei vollem Gehalt der Bezüge freigestellt. Danach habe ich mich arbeitslos gemeldet. In der Zeit der Freistellung habe ich auch weiterhin Weihnachtsgeld und einen Teil der Jahresprämie ausgezahlt bekommen. Meinen Dienstwagen durfte ich auch bis zum offiziellen Ende des Arbeitsverhältnisses behalten.

Das Abfindungspaket war angemessen. Ob ich damit finanziell abgesichert bin, wird sich in einigen Jahren zeigen. Von einer Klage habe ich abgesehen.


Hättest du Alternativen zum Aufhebungsvertrag gehabt?

Im Grunde hatte ich 3 Optionen:
Option A: Das Abfindungspaket nehmen und gehen.
Option B: Ich hätte in Altersteilzeit gehen können. Dann wäre ich mit 63 draußen gewesen. Insgesamt wäre ich mit dieser Variante finanziell schlechter gefahren.
Option C: Das Stellenabbauprogramm war freiwillig. Ich hätte also im Unternehmen bleiben können, allerdings auch zu schlechteren Konditionen. In dem Fall hätte ich ein anderes Verkaufsgebiet bekommen. Die nächste Umstrukturierung stand sechs Monate später schon wieder an.

Letztendlich bin ich schweren Herzens gegangen, weil ich das Gefühl hatte, nicht mehr gewollt zu sein.


Wie zufrieden warst du mit deinem Anwalt?

Mein Anwalt war klasse. Ich habe ihn beauftragt, damit der Aufhebungsvertrag keine unsachgemäßen Formulierungen enthält, die womöglich eine Sperre bei der Agentur für Arbeit nach sich gezogen hätten. Im Gegensatz zu fast allen anderen betroffenen Kollegen bekam ich keine Sperre.


Hat sich dein Arbeitsrechtsschutz gelohnt?

Die Rechtsschutzversicherung hat nicht gegriffen, weil es ja eine freiwillige einvernehmliche Einigung war. Eine Klage hätten sie dagegen unterstützt. Ich durfte auch feststellen, dass gute Anwälte nicht für die Sätze der Rechtsschutzversicherung arbeiten. Die rechnen teilweise zu Stundensätzen ab. Mein Anwalt hat €250,00 pro Stunde verlangt. Das war es mir wert. Ich habe mich damit sicher gefühlt.

Zur Auszahlung der Abfindung habe ich auch eine Beratung beim Steuerberater genommen. Mein Arbeitgeber hätte mir und meinen ausscheidenden Kollegen zwar eine Beratung bei einer von ihr ausgesuchten Kanzlei bezahlt, der junge Rechtsanwalt war in meinen Augen aber nicht versiert genug.


Was würdest du heute anderen raten, die in eine solche Situation kommen?

Immer einen Anwalt und einen Steuerberater hinzuziehen. Das kommt sonst zu teuer. Wichtig ist auch zu hinterfragen, ob sich eine Klage überhaupt lohnt. Viele, die in unserem Fall geklagt haben, sind im Vergleich dann schlechter gefahren als mit der vorherigen, freiwilligen Regelung.


Wie erging es dir auf der Suche nach einem neuen Job?

Ein Jahr hatte ich mir gegeben, um vielleicht mit viel Glück und Zufall einen Job in meinem bisherigen Arbeitsfeld zu bekommen. Ich berate und verkaufe für mein Leben gern, war fast mein ganzes Berufsleben im betäubungsmittelpflichtigen Bereich unterwegs. Mit meiner Expertise konnte ich zusammen mit den Ärzten viel bewegen.

Auf keine meiner wenigen Bewerbungen habe ich eine Antwort bekommen. Jetzt mit der Corona-Krise ist das sowieso Makulatur. Alle Pharmareferenten sind im Home Office oder in Kurzarbeit. Ich denke, sie sterben mit der Zeit aus, da sie weder von der Politik noch den Ärzten gewollt sind oder in Zukunft durch Corona verstärkt digital gearbeitet wird.

Mein Plan B ist – und das würde die Agentur für Arbeit auch fördern – eine Ausbildung als Demenzbetreuerin zu machen. Das dauert nicht lange und ich kann sehr gut mit dementen Menschen umgehen. Die Arbeit macht mir Freude. Kollegialität und Gesehen werden sind mir wichtig.

Allerdings muss ich dazu sagen, dass ich diese Tätigkeiten nur mit finanziellen Reserven durchführen kann. Demenzbetreuer werden sehr schlecht bezahlt. Im Moment liegt dieser Plan aufgrund der Pandemie auf Eis. Ich werde das auf jeden Fall angehen, sobald es die Situation wieder erlaubt.


Wie war dein Stresslevel in dieser für dich schwierigen Zeit?

Mein Stresslevel lag im normalen Bereich. Gesundheitlich ging es mir allerdings sehr schlecht. Ich bin selbst chronische Schmerzpatientin. All die Erschütterungen haben die Schmerzen verschlimmert. Wut habe ich nur ganz kurz mal verspürt. Das war nur ein Anflug. Ich neige nicht zu Wut. Der Trauer habe ich etwas entgegengesetzt, indem ich weiter zum Sport, ins Theater, ins Kino und in die Kneipe gegangen bin.


Bist du eher jemand, der die Dinge selber mit sich ausmacht?

Ich muss schweigen und reden, wenn es um die Aufarbeitung geht. Schweigen nicht zu lange, reden nicht zu viel.


Wenn du zurückblickst, was denkst du, wo stehst du jetzt, im Ablösungsprozess von der alten Firma?

Hinter mir liegt ein Trauerjahr. Das gibt es nicht umsonst. Vor einigen Monaten ist alles endgültig von mir abgefallen, was noch mit der Firma zusammenhing.


Hast du deine Entscheidung, die Aufhebung zu unterzeichnen, eigentlich im Rückblick bereut?

Nein, es war die richtige Entscheidung. Ich hätte es nicht mehr ausgehalten. Es war so weit, dass ich mich hätte verbiegen müssen.


Was hast du mitgenommen aus dieser Zeit?

Der Job war gut und hat mir Freude bereitet. Jetzt möchte ich diese 6o-Stunden-Wochen mit Umsatzdruck und Stau im Auto nicht mehr geschenkt zurück.

Ich bin insgesamt genügsamer und dankbarer geworden für das, was mein Leben ausmacht.


Haben sich deine Essgewohnheiten in den letzten Monaten verändert?

Ja, zum Positiven! Außendienstler sind ja unkontrollierte Allesfresser aus der Hand im Auto, weil es keinerlei Pausen gibt.


Du weisst ja, mein Slogan heisst „Ich wurde gefeuert – zum Glück!“ Was ist dein Glück?

Meine absolute Selbstbestimmung, wenn aktuell auch eingeschränkt. Das ist aber höhere Gewalt.

VIELEN DANK. 

 

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